Was machen wir da eigentlich? Und wo wollen wir hin?

Ein Bericht aus dem Heimfocus N°29 – 06/2017  (Bericht zum Download):

Was machen wir da eigentlich? Und wo wollen wir hin?

Lassen wir endlich das Drumherumreden. Probleme und Missverständnisse lassen sich nur lösen, wenn sie benannt werden. Es ist Zeit, nachzudenken und nachzubessern. Der Umstand, dass in den vergangenen Jahren so viele Geflüchtete zu uns gekommen sind, deckt viele schon zuvor vorhandenen Schwachstellen und Herausforderungen unserer Systeme auf. Diese beziehen sich nicht nur auf die Geflüchteten, sondern auf alle, die hier leben.

Manche Menschen wollen Lebensmittel aus aller Herren Ländern jederzeit gut, günstig und immer verfügbar haben, andere wollen trendige Klamotten zu Schnäppchenpreisen, billige Telefone, Computer und Tablets. Menschen wollen möglichst viel verdienen, aber für Dinge so wenig wie möglich ausgeben. Kann das funktionieren? Wenn jeder so viel herausholen möchte, wie es geht, aber gleichzeitig vermeiden will, selbst beizutragen, werden unsere Gesellschaft und unser Sozialsystem nicht funktionieren! Die Suppe im Topf reicht nun mal nur dann für alle, die sie brauchen, wenn der Topf immerzu aufgefüllt wird. Die einen verstehen das geschickt zu nutzen und holen nur ihren eigenen Vorteil heraus, die anderen kennen und verstehen nicht einmal die Spielregeln.

Wir wissen es doch, dass für den Vorteil, den der Eine für sich heraus schlägt, am anderen Ende der andere bezahlen muss, mit seiner Ausbeutung, mit seiner Benachteiligung, mit seiner Würde. Doch wollen wir aus dem, was wir wissen, persönliche Folgen ziehen, sind wir bereit, mit einem weniger an Ich und einem mehr an Wir zu antworten? Volle Auftragsbücher, Reiselust, Wohlstand und Wachstum, das ist gut. Waren sollen grenzenlos rund um die Welt reisen, die Menschen aber auf keinen Fall! Und schon gar nicht solche, die eine andere Hautfarbe haben, die einer anderen Kultur oder Religion angehören. ‚Deutsche‘ haben leicht reden, als Besitzer eines ‚roten Passes‘ mit dem goldenen Adler drauf – eines Zauberschlüssels, der fast alle Möglichkeiten auf der Welt eröffnet! Sie haben meist die Wahl, wo sie leben, studieren, arbeiten wollen. Fast alle sind durch ihre deutsche Staatsangehörigkeit auf der sicheren Seite. Die meisten kennen es nicht anders und sind sich dieses Privilegs nicht einmal bewusst.

Es fällt leicht, die Menschen, die sich auf den Weg zu uns gemacht haben, weil sie sich eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder erhoffen, zu verurteilen. „Sie wollen doch alle nur in unsere soziale Hängematte rein“, hießt es da, oder auch: „Aber wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen!“ Keine Angst, Europa und Deutschland sind im globalen Vergleich ziemlich abgeschlagen bei der Aufnahme von Geflüchteten. Und ja, es kann auch sein, dass unsere bereitgestellte Versorgung im Vergleich attraktiv erscheinen mag. Warum auch nicht, es gibt hier Geld und andere Leistungen vom Staat und für den Rest gibt es Hilfsangebote von allen möglichen Seiten: Das ist doch der erste Eindruck, den wir auch Geflüchteten vermitteln. Wir sollten aufhören, Menschen dafür zu kritisieren, wenn wir sie in Abhängigkeit halten und für sie schließlich die soziale Sicherung zu einen Lebensentwurf und einem Angebot machen, von dem viele in der Heimat nicht hätten träumen können.

Wir sollten Menschen gleich bei der Ankunft vermitteln, was sie hier erwartet, was sie von uns erwarten können und dürfen, aber auch, was wir von ihnen erwarten, wenn sie hier mit uns leben wollen. Sie sollten verstehen, wie unsere Systeme funktionieren. Denn diese sind vielen völlig neu. In den Herkunftsländern gibt es oft Zusammenhalt und Solidarität nur innerhalb der Familie oder des Stammes, keine Steuern, die das Zusammenleben und den Staat finanzieren, keine Krankenversicherung und sonstige Abgaben, die unseren Lebensstandard finanzieren. Manche denken darüber nach, wenn man sie darauf hinweist, dass es ihre Erstunterbringung nach der Ankunft in Deutschland, ja, selbst Asylverfahren, Unterkunft, Versorgung, medizinische Behandlung, Schule, Kindergarten, Sprachkurse, Asylberatung usw. schlicht nicht gäbe, wenn nicht so viele Menschen bereit wären, dafür einen Teil von dem abzugeben, was sie verdienen. Dass auch sie selbst dazu beitragen sollen und müssen, so schnell es geht.

Immer wieder kommt man an den Punkt zurück: Wir erklären zu wenig, wir liefern. Die Menschen bekommen Geld ‚vom Staat‘, man erklärt ihnen aber nicht, wo es herkommt und dass es nur als übergang gedacht ist. Dies sollte dann auch ohne Unterschied bei allen, die hier leben, so gehandhabt werden. Wir wollen nicht, dass Menschen unser System ausnutzen und beschweren uns, dass ‚sie den ganzen Tag nichts machen‘. Eine Arbeitsaufnahme ist aber freiwillig, solange das Asylverfahren läuft – oder die Duldung. Andererseits dürfen manche Geflüchtete, die arbeiten und Steuern zahlen wollen, je nach Herkunft und Status nicht (mehr) arbeiten. Sie werden, teilweise nach Jahren, wieder in Abhängigkeit von unseren Sozialsystemen gezwungen und abgeschoben. Wer soll das verstehen?

Wenn man gleich von Anfang an staatlich versorgt wird, ohne Gegenleistung, ohne erkennbare zeitliche Begrenzung, dann dürfte es für viele, die in der Heimat dieses System nicht kennen, ungewohnt sein. Und sie brauchen sich nur in ihrer Lebenswelt der Unterkünfte oder der eigenen Community umzuschauen, viele dort leben genauso. So kann es zum angenommenen Normalfall werden. Die Communities funktionieren bestens, was Kommunikation über Angebote und Möglichkeiten angeht, wo man günstig welche Dinge bekommt und was man bei Behörden am Besten tun oder sagen soll. Ob sich Arbeit ‚rechnet‘, wenn man die Steuern und alle Fixkosten abzieht, die man nun plötzlich alle selbst zu begleichen hat. Diejenigen, die schnell auf die Beine kommen wollen und sich dafür Tag und Nacht ins Zeug legen, werden manchmal belächelt und entfremden sich von ihren eigenen Leuten.

Andererseits wollen viele Menschen, die es zu uns geschafft haben, schlicht wieder sicher und selbstbestimmt leben, sie strengen sich an und kämpfen sich durch. Mit gebündelten Ressourcen und einem effizienten Einsatz von Mitteln an der richtigen Stelle sollten wir jenen diese Chance geben, die sie wirklich wollen und danach greifen. In Ausbildung und Arbeit bringen, so schnell es geht: Das wäre es, wenn wir nicht wollen, dass unser System ausgenutzt wird. Doch Ankommen braucht hier zu viel Zeit.

Die lange Versorgung vom Staat könnte auch als Hoffnungszeichen auf eine sichere Anerkennung missverstanden werden. Wie groß ist dann am Ende die Verzweiflung, wenn doch eine Ablehnung kommt: Verlorene Lebenszeit, verlorenes Selbstvertrauen. Eine Zeitschleife, bei der es nicht darum geht, den einzelnen Menschen mit seinen Fähigkeiten anzuschauen. Wir betrachten Zahlen und Herkunftsländer. Deutschkurse noch im Asylverfahren, also die Abkürzung zum Neustart, werden nur finanziert für Menschen aus Herkunftsländern ‚mit hoher Bleibeperspektive‘, wie es im Behördendeutsch heißt. Welche Grundlagen berücksichtigen wir, um darüber zu befinden, welches Land sicher ist? Und welche Informationen schließen wir bewusst aus? Und selbst wenn wir es als ‚sicher‘ erklären: Warum können wir auch den Menschen, die von dort kommen, nicht eine Chance geben, wenn sie sich dafür sichtbar mit Vollgas ins Zeug legen? Also den Selbstläufern und Vorbildern in Integration?

Wir schicken Tausende Menschen in Integrationskurse, um sie für ein Leben in Deutschland und vor allem für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Wie schafft man das? Mit lebenspraktischen Spracherwerb, in dem die Zuwanderer einen direkten Bezug zu ihrem Alltag erkennen können und motiviert werden. Mit Dialogübungen, die ihrer Lebenswelt entsprechen: Arbeit(ssuche), Ausbildung, Behördenkontakte, Alltagssituationen. Warum muss in einem Integrationskurs unterrichtet werden, wie man einen TV anschaltet – und welche Art von Fernsehsendungen es in Deutschland gibt? Haben wir nicht deutlich wichtigere Themen?

Wir drängen Geflüchtete regelrecht in die Unselbstständigkeit und zum Ausnutzen des Systems. Alles ist anders als daheim, wo man selbst sehen musste, wie man sich versorgt und zurecht kommt: Staatliche Versorgung und ein Füllkorb an Angeboten und Programmen, die kommen und gehen, von allen möglichen Trägern, von Ehrenamtlichen, von Institutionen und Kommunen. Wer blickt da noch durch, wo ist die Koordinierung und vernünftige Steuerung dieses Füllhorns? Wo wird zusammengearbeitet, damit sich Angebote ergänzen und nicht konkurrieren, damit die Mittel, die ausgegeben werden, möglichst effizient eingesetzt werden? Wo wird dem Fördern auch ein Fordern gegenüber gestellt, das den Wert und die Ernsthaftigkeit der Angebote verdeutlicht? Besonders in den letzten zwei Jahren ist ein unübersichtlicher Markt an Angeboten entstanden. Oftmals klappt es nicht einmal innerhalb einer Kommune, diese für Geflüchtete sinnvoll zu koordinieren und Synergien zu nutzen. Wie soll das erst im großen Ganzen funktionieren?

Auch die individuelle Unterstützung der Geflüchteten durch Ehrenamtliche zielt nicht immer darauf ab, sich durch konsequente Hilfe zur Selbstständigkeit als Unterstützer so schnell wie möglich zurück zu ziehen. Ist die Haltung sinnvoll, den ‚armen‘ Menschen bei jedem geäußerten oder auch nur angenommenen Bedarf helfen zu wollen? Hilft man den Menschen, wenn man an allen Ecken und Enden versucht, für sie alles zu organisieren, ihnen kostenlos Dinge besorgt und zur Verfügung stellt? Nein! Damit geben wir ihnen ein völlig falsches Bild von unserem Land, von der Leistungsbereitschaft, die von jedem hier erwartet wird, damit der Topf der Solidargemeinschaft gefüllt bleibt für Menschen, die in einer schwierigen Situation sind.

Auch das hat etwas mit wirklichem Ankommen zu tun, dass man beiträgt, dass man zurück gibt an die Gesellschaft, die einen aufgenommen hat. Und viele wollen es auch, wenn sie verstanden haben, wie hier alles tickt.

Für sich selbst zu sorgen, so schnell und so gut man kann, dafür ist der sperrige Amtsbegriff ‚Mitwirkungspflicht‘ nur bedingt geeignet. Warum nicht von der Wirtschaft lernen und ein Bonussystem entwickeln? Menschen, die zu uns kommen, sollten von Anfang an Anreize und Angebote erhalten, in Arbeit zu kommen. Viele wären froh darüber, denn Nichtstun belastet. Dazu gehört auch, dass es einen spürbaren Unterschied geben muss, ob man arbeitet oder nicht!

„Wir schaffen das“ – JA, aber nur wenn sich etwas ändert. Da mache ich mir als jemand, der sehr viel Zeit mit der Unterstützung von Geflüchteten verbringt und der andererseits weiß, wie hier die Gesellschaft und Arbeitswelt ticken, so meine Gedanken. Ganz nüchtern. Mit Sorge. Anstelle Gelder in aller Herren Länder zu schicken, anstatt sie dubiosen Staatschefs in die Hand zu drücken, um uns Geflüchtete vom Leib zu halten, sollten wir in ein Update unserer Systeme und vor allem in Aufklärung investieren! Wir müssen weltweit vermitteln, ja, wir sind ein demokratisches und auch ein reiches Land, wir sind bereit, Menschen aufzunehmen, aber wir erwarten von ihnen Leistung, auch von Geflüchteten, die Bereitschaft, zu lernen, zu arbeiten und Steuern zu zahlen – mit zu kochen am Suppentopf, damit dieser gefüllt und unser Land das bleibt, was wir an ihm so schätzen!

Wir müssen Gelder für Sprachkurse, die nicht immer koordiniert und qualitativ befriedigend sind, sinnvoll einsetzen und Sprache nur von geprüften Fachleuten vermitteln lassen. Wir brauchen viele gute praxisbegleitende Abendkurse für Menschen in Ausbildung, Praktikum oder im Job.

Wir müssen dringend die verbreitete Schwarzarbeit unterbinden, wir müssen konsequent Menschen in Vollzeitarbeit vermitteln, selbst wenn der Nettoverdienst manchmal nicht soviel mehr ist als die gesamte Grundsicherung.

Wir müssen Menschen, die neu zu uns kommen, klar machen, wohin hier die Reise geht. Sie müssen es verstehen, damit sie ihre Lebensplanung danach ausrichten können. Warum können wir nicht jedem, der nach Deutschland kommt, eine menschenwürdige Unterkunft bieten, einen sofortigen Basissprachkurs und eine klar begrenzte Zeit, um sich mit unserer Hilfe entweder gemeinnützig zu engagieren oder einen (Einstiegs-)Job zu finden? Dazu weitere Sprachkurse und nach und nach Aus- oder Weiterbildungsmöglichkeiten? Auch für die Fluchtverarbeitung und die Heilung von Verletzungen, die die Menschen mitbringen, sind Beschäftigung, Struktur und Anerkennung doch viel besser! Ich bin mir sicher, dass dieser Ansatz deutlich effizienter wäre.

Wir müssen Menschen, die sich integrieren und sich eine bessere Zukunft erarbeiten wollen, effektiv und schnell eine Chance geben und denen, die es nicht wollen, mit Konsequenz entgegentreten. Gut, dass wir einen Suppentopf haben; davon essen kann und darf jeder, der es braucht, daran mitkochen muss jeder, der es kann. So funktioniert das hier.

Paula W. ehren- & hauptamtliche Unterstützerin von Geflüchteten


Vielen Dank an die Erlaubnis des Heimfocus Teams, den Artikel hier veröffentlichen zu dürfen!

Weitere spannende Themen des aktuellen Heimfocus N°29 – 06/2017 :

  • Editorial (Seite 3)
  • Das wandernde Ich – Perspektiven einer modernen Nomadin (Seite 4)
  • „If you can dream it, you can do it.“ – Mit knapp 13 Jahren als Spätaussiedlerin aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert (Seite 6)
  • Schule in Zeiten des Krieges Interview mit Khaldoun Al Batal, Al Caravan (Seite 8)
    Hört uns zu! Kinder in Syrien teilen ihre Lebensgeschichten, Träume und Gedanken über ihre Rechte mit uns (Seite 13)
  • „Das Leben läuft einfach weiter, und wir müssen mithalten – nur so können wir leben“ (Seite 16)
  • Verwundete Seelen Eine Ausstellung mit Bildern von Flüchtlingen in Linnich, Kreis Düren (Seite 17)
  • Seenotrettung im Mittelmeer – und Abschiebung übers Mittelmeer (Seite 20)
    Es wird nie mehr sein, wie es war Mama, meinst du, der Frieden kommt bald? (Seite 24)
  • „Stoppt die Rüstungsexporte“ Ostermarsch 2017 (Seite 26)
  • Was machen wir da eigentlich? Und wo wollen wir hin? (Seite 29)
  • „Neu in Deutschland“ Ein Versuch, die Anonymität des Sammelbegriffs ‚Flüchtling‘ zu durchbrechen (Seite 32)
  • Ga Ga Land Im Land der „Da-sind-wir-nicht-zuständig“ (Seite 34)
  • Hürden und Chancen bei der Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt (Seite 36)
  • Auf Wiedersehen, Europa! War schön mit Dir. Immer mehr afrikanische Migranten kehren in ihre Heimat zurück, um ihr Land aufzubauen (Seite 38)
  • So könnte es gehen! Aber dann die deutsche TK-Pizza in Nairobi (Seite 40)
  • Bloß keinen Marshallplan für Afrika! „Kölner Memorandum“ für eine andere Entwicklungspolitik (Seite 42)
  • Klartext 06/2017 (Seite 44)
  • Impressum und Infos (Seite 47)